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1. Kapitel lesen

Das verhängnisvolle Feuer
Das 2. Kapitel

Plötzlich zog Mario Kirchner seine Zunge aus dem Mund des süßen Mädchens mit den langen pechschwarzen Haaren zurück, unter deren T-Shirt seine Hände gerade auf Wanderschaft gegangen waren.
"Was ist denn los?", hauchte sie überrascht.
"Ich muss mich ums Feuer kümmern!", erwiderte Mario mit einem pflichtbewussten Unterton.
"Jetzt?", rief das fassungslose Mädchen vorwurfsvoll.
"Natürlich jetzt! Sonst gehen die Leute ja heim, bevor das Feuer brennt."
"Dann könnten wir ja auch heim zu dir gehen."
Schweren Herzens ignorierte Mario den verführerischen Blick. "Nach dem Feuer!", versprach er und drückte der Enttäuschten einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann raste er davon, eilte die Treppen der Kirche hinunter und verschaffte sich trotz seines volltrunkenen Zustands rasch einen Überblick über die Situation. Die Kerwasburschen warteten bereits auf ihn. Sie lungerten sinnlos am Dorfplatz herum und lechzten förmlich nach Instruktionen.
"Also, auf geht′s!", rief Mario ihnen von Weitem entgegen.
"Schon fertig?", prustete Bernd Hagen, und die umstehenden jungen Männer lachten hämisch.
"Lacht nicht, geht lieber das Holz holen, damit das heute nochmal was wird!"
Grummelnd rollten die nicht mehr ganz nüchternen Adressaten mit den Augen.
"Hat sie ihn nicht rangelassen, oder was?"
"Kaum zurück, trägt er schon wieder die Ruhe raus."
"Elender Sklaventreiber!"
Mario ignorierte die lallenden Proteste seiner Kerwasburschen. Er war schließlich Widerworte gewohnt. Als Chef eines trinkwütigen Sauhaufens musste man ein dickes Fell haben. Zuckerbrot und Peitsche war sein Motto.
"Bernd und Paul, geht ihr bitte hoch zur Scheune und holt zwei Schubkarren voll Holz? Leo, Niklas, geht mit und holt ein paar Kästen Bier, okay?"
Fluchend machten sich die vier Jugendlichen auf den Weg.
"Ist Udo auch noch da?"
"Den kannst du vergessen!", lachte jemand und deutete auf die unterste Stufe der Kirchentreppe. Dort saß Udo in gequälter, nach vorn gebeugter Haltung auf der Treppe und hatte einen Kasten Bier auf dem Schoß, auf dem er mit dem Gesicht voraus den Kopf abgelegt hatte, um zu schlafen. Mario schüttelte den Kopf. Zu nichts zu gebrauchen!
Wenige Minuten später war das Feuerholz eingetroffen. Sorgfältig baute Mario die Holzscheite in der Feuerwanne auf und zückte sein Feuerzeug.
"Und so findet auch diese Kerwa wieder ihr ruhmreiches Ende!", verkündete er feierlich, und die umstehenden Zuschauer applaudierten, als er das Feuer entzündete. Die ersten schüchternen Flammen züngelten in den sternenklaren Himmel der kühlen Nacht. Die Kerwasburschen freuten sich auf das wärmende Feuer. Die beinahe 40 jungen Männer öffneten ihre Bierflaschen und setzten sich im tanzenden Schein der Flammen um die Feuerwanne.
Plötzlich erhellte der Lichtkegel eines nahenden Autos die Hauptstraße.
"Alter, schaut mal auf die Uhr. Wer kann denn um diese Zeit noch Auto fahren?", raunte Leo Baum und stemmte sich tapfer gegen den Würgereiz, als er an seinem nächsten Bier nippte.
Das Auto schoss ins Blickfeld, bremste, und der Fahrer sah sich neugierig um, ehe er im Schritttempo weiterfuhr.
Die Kerwasburschen runzelten die Stirn. Polizei? Was wollten die denn hier? Die Kerwa war doch hiermit offiziell beendet.
Der Wagen fuhr an der Kirchentreppe vorüber, blinkte und parkte links von der Kirchenmauer auf dem Parkplatz.
"Meinst du, die wollen auch ein Bier?"
"Keine Ahnung. Ich würde nicht drauf wetten", antwortete Mario. Ein Polizist stieg aus dem Wagen und eilte zielstrebigen Schrittes auf das Feuer zu.
"Vielleicht ist dem kalt und er will sich aufwärmen."
"Schon mal was von Heizung gehört?"
"Naja, in meinem Auto funktioniert die auch nie."
Mit versteinerter Miene erreichte der Polizist die illustre Runde.
"Was macht ihr denn da?", bellte er.
Die Kerwasburschen zuckten erschrocken zusammen. Was war denn mit dem los?
"Nach was sieht′s denn aus? Wir schüren ein Feuer", erwiderte Mario trocken.
"Mitten im Ort? Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?", donnerte der unfreundliche Polizist.
"Wir passen schon auf. Außerdem haben wir ja eine Feuerwanne."
Mit zornesrotem Kopf ließ der Polizist seine orkanartige Stimme durch die angespannte Stille peitschen: "Wo ist eure Genehmigung? Wer hat euch das erlaubt?"
"Das ist bei uns an Kerwa Tradition", erklärte Mario.
"Das interessiert mich nicht! Ich will wissen, wer euch das erlaubt hat!"
"Bleiben Sie doch mal ruhig. Wie gesagt: Das ist bei uns eine Tradition. Machen wir jedes Jahr."
Grummelnd eilte der Polizist zu seinem Auto, holte einen Stift und einen Block und kehrte an das Feuer zurück. "Mir reicht es jetzt! Ich werde eure Personalien aufnehmen. Einer nach dem anderen bitte. Vortreten und Ausweis zeigen! Aber zackig!"
Mario erhob sich als Erster von der Kirchentreppe. Schließlich war er der Anführer der Kerwasburschen. Pflichtbewusst wie immer hatte er das Gefühl, verantwortungsvoll vorangehen zu müssen. "Mario Kirchner. Ich habe das Feuer angezündet. Und ich bin stolz drauf!"
"Das ist mir wurscht, ob du stolz darauf bist! Deinen Ausweis will ich sehen!"
Stirnrunzelnd fragte sich Mario, ob es denn wirklich ein cleverer Schachzug war, 40 betrunkene Männer, die einfach nur in Ruhe ihr Bier trinken wollten, derart aggressiv und provokant anzubrüllen. Was lernte man eigentlich in der Polizeiausbildung?
"Hier, bitte", sagte er und überreichte dem Polizisten seinen Ausweis.
"Aha. Mario Kirchner. Wohnhaft in Weiherfelden. Offensichtlich der Rädelsführer hier, nicht wahr?"
Wie ein Rumpelstilzchen sprang der Polizist durch die Reihen, nahm die Personalien auf, verlangte die Ausweise und machte sich einen Freund nach dem anderen.
"Willst du auch einen Schluck? Vielleicht wirst du dann ein bisschen ruhiger..."
"Unerhört! Ich bin im Dienst! Und den nehme ich sehr ernst!"
"Ja, das merkt man", lallte Udo Ritter sarkastisch, den der Polizist gerade aufgeweckt hatte. Sein gesamtes Gesicht war von den Abdrücken der Bierkapseln übersät, auf denen er stundenlang geschlafen hatte.
"Und was passiert jetzt?", erkundigte sich Mario im Interesse aller.
"Die Personalien werden im ersten Schritt an die Gemeinde weitergegeben. Dort entscheidet man dann, ob dieses Vergehen zur Anzeige kommt."
Erleichtert lachte Mario dem Polizisten ins Gesicht. "Ehrlich? Der Gemeinde? Dann hätten Sie sich den ganzen Zirkus sparen können."
"Das glaube ich nicht", schnaubte der Polizist wütend. "Wenn die Gemeinde diesen Unfug gutheißt, dann hätte sie es im Vorfeld genehmigt."
"Wart mal schnell, das haben wir gleich", erwiderte Mario. Selbstsicher zückte er sein Handy und wählte eine Nummer.
"Verdammt nochmal, es ist 4 Uhr morgens!", schimpfte eine verschlafene Stimme nach dem zehnten Klingeln ins Telefon.
"Harry, wir haben ein Problem", erklärte Mario hastig. "Wir haben einen wildgewordenen Polizisten hier..." Der Polizist brummte missbilligend. "... der will uns verbieten unser Feuer zu schüren."
"Ja spinnt der? Ich bin schon unterwegs!"
Aufatmend wandte sich Mario wieder an den Polizisten: "Der Bürgermeister ist unterwegs. Dann können wir das gleich auf dem kurzen Dienstweg klären und Sie können wieder abdampfen."
Ungläubig verdrehte der Polizist die Augen. Der Bürgermeister? Um 4 Uhr morgens? In welchem Ort war er hier bloß gelandet?
Zehn Minuten später fuhr der fette Mercedes des Bürgermeisters vor. Mitten auf der Hauptstraße hielt er an. Dann setzte er schwerfällig ein Bein nach dem anderen auf die Straße und purzelte unbeholfen aus dem Auto. Erst jetzt fiel Mario auf, dass diese Autofahrt gewiss keine gute Idee gewesen war. Der Bürgermeister hatte auf der Kerwa selbst ordentlich getankt und war vor ca. zwei Stunden in großflächigen Schlangenlinien nach Hause gewankt. Dass ihm der Polizist jetzt noch den Führerschein entzog, hatte den Kerwasburschen gerade noch gefehlt. Aber der Ordnungshüter war so überrascht von der unerwarteten Präsenz des Bürgermeisters, dass er dessen Zustand trotz des offensichtlichen Sturzes nicht bemerkte.
"Diese Verrückten hier haben einfach ein Feuer vor Ihrer Kirche angezündet. Das geht so nicht! Sie haben keine Genehmigung. Und zeigen sich äußerst uneinsichtig, erzählen mir irgendwas von Tradition und Kirchweihbrauchtum."
"Das ist schon OK. Die dürfen das! Das ist wirklich eine Art Tradition an unserer Kerwa."
Fassungslos starrte der Polizist den Bürgermeister an.
"Ich habe alle Personalien aufgenommen, falls Sie die haben möchten."
Mit glasigen Augen starrte der Bürgermeister auf das Blatt Papier, das ihm der Polizist stolz entgegenreckte. Das Oberhaupt der Gemeinde Weiherfelden nahm den Zettel mit den Personalien entgegen und knüllte ihn unordentlich in seine Hosentasche.
Der Polizist nickte zufrieden. "So, und das Feuer sollte jetzt wirklich gelöscht werden. Damit nicht noch mehr passiert."
"Jetzt schon? Um 4 Uhr?", fragte der Bürgermeister ungläubig. "Kommt nicht in Frage. Es hat doch gerade erst angefangen. Ich bleib hier und pass auf die Jungs auf. Und Sie können nach Hause fahren. Ich hab alles im Griff."
Geschlagen zuckte der Polizist mit den Schultern und verabschiedete sich fluchtartig in seinen Dienstwagen, während der Bürgermeister mit spitzbübischer Miene den zerknüllten Zettel aus der Hosentasche kramte und in die Flammen warf.
"Warum fährt er denn nicht weg?"
"Vielleicht will er doch noch ein Bier."
"Glaub ich nicht."
"War auch nicht ernst gemeint."
"Ach so."
Zwei Minuten später kehrte der Polizist mit zornesrotem Kopf zurück. So wütend hatten ihn die Kerwasburschen noch nicht gesehen.
"Wo ist mein Autoschlüssel?", polterte er völlig außer sich.
Die Kerwasburschen zuckten mit den Schultern. "Das musst doch du wissen."
"Als ich meine Zettel geholt habe, war er definitiv noch da. Wer hat ihn genommen?"
"Alter, du hast deinen Schlüssel stecken lassen, während du mit uns diskutiert und unsere Personalien aufgenommen hast?", prustete Leo und machte keinen Hehl daraus, für wie dumm er den Polizisten hielt.
Der Ordnungshüter antwortete nicht. Er starrte Leo einfach nur an. Wenn Blicke töten könnten...
"Wo ist denn eigentlich dein Partner? Dürfen Polizisten überhaupt allein Einsätze fahren? Gerade nachts...", erkundigte sich Niklas Dinger neunmalklug.
"Ich bin Hundestaffelführer. Da brauche ich keinen Partner!"
"Aber du hast ja gar keinen Hund dabei."
Wutentbrannt blickte der Polizist zu Boden. Dann explodierte er: "Wenn in 30 Sekunden mein Autoschlüssel nicht im Auto liegt, dann hole ich den Bundesgrenzschutz!"
Niklas Dinger kicherte: "Na klar, weil die kommen, nur weil du dir deinen Autoschlüssel klauen lässt."
"Außerdem hätten die sowieso keine Chance gegen uns", lachte Paul Bauer in einem volltrunkenen Anflug von Größenwahn.
Noch volle 15 Minuten lang stiefelte der Polizist wie von der Tarantel gestochen am Feuer entlang. "Ich lass euch alle festnehmen! Ihr werdet euch noch wundern, das sag ich euch!", grummelte er wütend.
Bis schließlich Max Hölzelein vom Pinkeln zurückkehrte.
"Schaut mal, was ich gerade am Straßenrand gefunden habe."
Freudestrahlend hielt er einen Autoschlüssel in den Händen. "Ist das vielleicht Ihrer?"
Mit weit aufgerissenen Augen stürmte der Polizist auf ihn zu. "Das wird dich teuer zu stehen kommen, Bürschchen!"
"Was denn? Dass ich den Autoschlüssel gefunden habe, den du verloren hast?"
Schnaubend musste sich der Polizist eingestehen, dass er sich in einer ganz und gar schwachen Position befand. Zumal es seiner Karriere sicher nicht förderlich war, einzuräumen, dass ihm eine Horde volltrunkener Deppen seinen unachtsam im Auto liegengelassenen Autoschlüssel geklaut hatte.
"Tut mir leid", entschuldigte sich Max grinsend, als er den Autoschlüssel übergab. "Ich habe ihn wohl zu spät gesehen. Da sind ein paar Tropfen drauf gespritzt."
Erzürnt, gedemütigt und geschlagen zog der Polizist von dannen.
"Harry, das war echt schwer in Ordnung von dir", huldigten die Kerwasburschen ihrem Bürgermeister. "Bei der nächsten Wahl hast du unsere Stimme!"
Als sich die Aufregung gelegt hatte, wurden die Kerwasburschen von einer plötzlichen Massenmüdigkeit erfasst. Eine halbe Stunde später war die Kirchentreppe von schlafenden und schnarchenden Jugendlichen bedeckt.
Mario saß mit Paul Bauer vor dem Feuer. Beide hatten die Augen geschlossen, das Kinn auf der Brust abgelegt.
Gähnend öffnete Paul ein Auge, blickte Mario fragend an und sprach: "Warst du zufrieden mit deiner Kerwa, Mario?"
Dann fiel Paul in einen tiefen Schlaf und konnte sich nicht mehr an seine eigene Frage erinnern.
Als Mario fünf Minuten später einen Augenblick lang erwachte, meldete sich sein Unterbewusstsein zu Wort und nötigte ihn, die Frage seines schlafenden Kumpels zu beantworten: "Die Kerwa war gut. Aber jetzt bin ich froh, dass sie vorbei ist. Ich muss mich wieder auf meine Ausbildung konzentrieren. Da wird der Weg für Ruhm und Wohlstand geebnet, Paul. Das sag ich dir!" Sein alkoholverschleierter Blick verlor sich in der Ferne: "Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, werde ich meine Ausbildung als Jahrgangsbester abschließen. Dann stehen mir alle Türen offen. Erfolg, Geld und Frauen. Ja, eines Tages werde ich mir alle meine Träume erfüllen!"
Mit diesen Worten legte er seinen Kopf auf Pauls Schulter ab und schnarchte im nächsten Moment wieder wie ein Sägewerk.
Zehn Minuten lang schliefen sie Seite an Seite, ehe Paul von dem immer lauter werdenden Schnarchen seines Freundes erwachte. "Erfolg, Geld und Frauen", gähnte er verschlafen. "Wow, ich muss ja wirklich was Tolles geträumt haben. Mario, komm schon. Lass uns eine Band gründen!"
Paul griff nach seiner Bierflasche. Er bemerkte am Gewicht, dass sie bereits leergetrunken war, musste sich jedoch eingestehen, dass er zu faul war aufzustehen und sich ein neues Bier zu holen. Also legte er sich prompt wieder schlafen.
Kurz darauf erwachte Mario mit einem Glänzen des Wahnsinns in den Augen. "Paul, ich hatte eine Vision. Eine Eingebung. Einen wunderbaren Traum. Lass uns eine Band gründen!"
Ächzend setzte sich Paul zurück in eine aufrechte Position und blickte seinen Kollegen verwundert an: "Eine Band? Wie kommst du denn darauf?"
"Ich weiß auch nicht. Aber ich könnte Schlagzeug spielen."
"Alter, ich wusste gar nicht, dass du Schlagzeug spielst."
"Tu ich auch nicht. Noch nicht. Aber mein Onkel war mal Schlagzeuger. Der müsste sogar noch eins haben. Wenn mein Onkel das kann, liegt es mir bestimmt auch im Blut."
Paul nickte feierlich, so als wäre das die logischste Schlussfolgerung aller Zeiten.
"Aber ich kann nichts."
"Gar nichts?"
"Gar nichts!"
"Kein Problem, dann singst du eben. Dann brauchst du schon kein Instrument zu lernen."
Paul dachte etwa drei Sekunden darüber nach, nickte kurz und legte sich wieder schlafen. Verdutzt musterte Mario seinen Kumpel. Dann zuckte er gleichgültig mit den Schultern und rollte sich gähnend auf der vom Feuer angewärmten Kirchentreppe zusammen. Ihr lautes Schnarchen wurde lediglich vom gemütlichen Knistern des Feuers unterbrochen.
Zwei Rockstars waren geboren!


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