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SV Möhrich − TSV Weiherfelden
(3. Spieltag)

Der Zivildienst hatte so gut begonnen. Mein unterhaltsamer Patient Alfred war bislang meine einzige Aufgabe gewesen. Neben den wenigen einfachen Arbeiten in seinem Haushalt waren wir die meiste Zeit einkaufen oder saßen gemütlich in einer Kneipe. Am Mittwoch dieser Woche aber war mein langzeiterkrankter Zivi−Kollege Ernst zurückgekehrt. Die Schonzeit war vorbei.

Für den Rest der Woche war ich Ernsts Schatten und folgte ihm auf Schritt und Tritt, um den Umgang mit schwer behinderten oder sehr alten Menschen zu erlernen. Als Erstes besuchten wir Frau Letten, eine verbitterte, zeternde Hexe, der wir die Fenster schrubben und ihre Stützstrümpfe anziehen durften. Anschließend putzten wir das riesige Haus einer wohlhabenden MS−Patientin, was die Anzahl der Blasen an meinen Handflächen verdreifachte. Mein persönlicher Höhepunkt war Herr Bleicher, der in einer Wohnung am Waldrand hauste, in der die Staubschicht mindestens drei Zentimeter betrug. Neben vertretbaren Dienstleistungen wie Einkaufen mussten wir auch seine völlig eingesaute, braun verkrustete Toilette reinigen. Ich sehnte mich zurück nach Alfred, aber die schönen, unbeschwerten Tage meines Zivildienstes waren mit Ernsts Rückkehr leider vorbei. Sein Vorname war eine Ironie des Schicksals.

Die ganze Woche lang fieberte ich dem Samstag entgegen. Ich war neugierig, was mich beim Ansehen eines Bundesligaspiels im Weiherfeldener Sportheim erwartete. Meine Gedanken kreisten um kauzige Gestalten wie den Don und seinen Regisseur. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass ein Samstagnachmittag im Kreise dieser illustren Gesellschaft spektakulär werden konnte.

Zunächst verlief alles recht gewöhnlich. Das Sportheim war gut gefüllt. Viele Weiherfeldener Männer waren gekommen und hingen gespannt am Bildschirm, während der FC Bayern den 1. FC Köln mit 4−0 nach Hause schickte. Das Bier floss in Strömen, aber das war ich seit meinem Umzug nach Franken ja bereits gewohnt. Lustig oder gar spektakulär war das Ansehen des Fußballspiels aber nicht. Mein Mannschaftskollege Niklas Dinger saß am gleichen Tisch wie ich und hatte beim Schlusspfiff der einseitigen Bundesligapartie offenbar eine leichte Enttäuschung in meinem Gesicht ausgemacht.

"Jetzt pass auf", murmelte er mir zu und wies grinsend mit hochgezogenen Augenbrauen auf einen Tisch, an dem eine größere Gruppe eingefleischter Weiherfeldener auf den Münchner Sieg anstieß.

"Diese Bundesligaspieler heutzutage", seufzte schließlich ein älterer Herr mit altmodischem Scheitel.

Sein Gegenüber setzte kopfschüttelnd sein Bierglas ab und zog verächtlich die Augenbrauen hoch: "Schweinsteiger. Lahm. Die hätten es früher bei uns gerade mal in die 2. Mannschaft geschafft."

Besorgt blickte ich Niklas Dinger an, der nur mit Mühe ein prustendes Lachen unterdrücken konnte. Waren die denn von allen guten Geistern verlassen? Bayern München hatte soeben ein 90−minütiges Feuerwerk abgebrannt und den 1. FC Köln nach allen Regeln der Kunst zerlegt. Sie waren auf dem Weg zur deutschen Meisterschaft. Meinte dieser Haufen alter Männer denn wirklich, dass diese Weltklassefußballer es früher kaum in ihre Reservemannschaft geschafft hätten?

"Naja, das waren einfach noch andere Zeiten. Techniker waren wir! Feine Techniker!"

"Dieses Gebolze heute auf dem Fernseher, das kann man ja nicht mehr mit ansehen!"

"Hast du den Van Buyten hinten in der Abwehr gesehen?", fragte ein heiserer Mann mit einem kläglichen Rest grauer Haare entrüstet. "Früher im Eckla, da hätten wir dem an Knoten in die Baa gspielt. Der würd ja heut noch von einem Hütchen zum andern rennen, wenn wir unser Training nicht vor 40 Jahren beendet hätten!"

Mit deftigem Gelächter prosteten die Helden von einst einander zu und befeuchteten ihre von den schwungvollen Reden ganz ausgetrockneten Lippen.

"Diese Profis heutzutage. Zum Frühstück hätten wir die früher verspeist! Die hätten sich ja vor Angst in die Hosen geschissen, wenn der Rudi mit seinen zwei Metern zehn auf sie zugestürmt wäre."

"Und schneller als die Spieler heute war der Rudi auch noch. Mensch, war der wendig mit seinen zwei Metern zwanzig!"

Niklas konnte sein Lachen nicht länger unterdrücken. Kichernd verfolgte er das unterhaltsame Schwelgen in den von Bier getrübten Erinnerungen.

"Was gibt’s denn da zu Lachen, Sohnemann?", fragte der Mann mit der grauen Halbglatze. ĭ>das war also Niklas Vater? Kein Wunder, dass Niklas immer so vorlaut und einfältig war.

"Also früher in eurer schwarz−weißen Welt, da müssen die Fußballer aber ganz schön schnell gewachsen sein", grinste Niklas belustigt.

"Schwarz−weiße Welt", schimpfte Niklas Vater missbilligend. "Setz dich mal mit rüber, dann wirst du schon hören, was wir damals für Teufelskerle waren. Drei Aufstiege in zehn Jahren sag ich nur. Drei Aufstiege in zehn Jahren!"

"Und nimm deinen ostpreußischen Kollegen mit. Damit der auch mal was Vernünftiges lernt!"

"Ich komme aus Hamburg", erwiderte ich neunmalklug und erntete zehn abwertende Blicke vom Stammtisch.

"Alles Preußen!" Die alten Weiherfeldener waren einer Meinung. Basta!

Zögerlich folgte ich meinem Kollegen Niklas an den Tisch. Diese kauzigen Männer waren mir irgendwie unbehaglich.

"Da siehst du mal", begann ein kleiner runzeliger Mann Anfang sechzig, und stieß mir kumpelhaft mit dem Ellbogen gegen die Schulter, als wäre ich schon seit jeher einer von ihnen gewesen. "Die Kirchtheiner haben euch letzte Woche gezeigt wies geht!"

Niklas bemerkte meinen skeptischen Blick und sah an meiner Miene, dass ich bereits etwas erwidern wollte, bewahrte mich aber mit einem kurzen Fußtritt davor, diesen selbsternannten Fußballexperten von den Vorteilen eines strukturierten Aufbauspiels aus einer technisch versierten Defensive zu philosophieren.

"Die haben eben noch klare Dinger hinten raus gespielt. Kein sinnloses Ballgeschiebe in der eigenen Hälfte!"

"Lange Bälle in die Spitze − ich habs schon immer gesagt. Es gibt nichts Besseres!"

"Das war Fußball, sag ich euch. Das war Fußball. Ihr könnt von Glück sagen, dass ihr kurz vor dem Schlusspfiff noch den Ausgleich geschossen habt!"

"Wenn es früher schon so Videokameras gegeben hätte. Ach, da hätten wir euch zeigen können, was wir damals für Fußballer waren. Grandios war das. Grandios!"

"Gegen Mannschaften wie einen 1. FC Kirchthein wären wir nicht einmal angetreten. Das sag ich euch", trommelte Niklas Vater euphorisch. "Das waren schon andere Kaliber, mit denen wir uns damals messen mussten. Aber wir haben sie alle besiegt!"

"Kirchthein. Hatten die damals überhaupt schon eine Fußballmannschaft?", lachte ein bärtiger Kollege und klopfte seinem Nebenmann zustimmend auf den Rücken.

"Vermutlich nicht. Kirchthein. Das wären ja nur Opfer für uns gewesen."

"Zweistellig hätten wir die nach Hause geschickt!"

"Mit verbundenen Augen und zusammengeknoteten Beinen!"

Kopfschüttelnd stahl sich unser Spielleiter Willi aus dem Sportheim. Kein Wunder. Bei dem Gerede konnte man ja nur die Flucht ergreifen.

"Was habt ihr früher gespielt, Papa?", fragte Niklas verschmitzt. "C−Klasse? Ist das nicht eine Liga niedriger als das, was wir heute spielen?"

Entrüstet polterte Niklas Vater sein Bierglas zurück auf den Holztisch. "Sei mal nicht so frech zu deinem alten Herrn!"

Sein Kollege war der gleichen Meinung: "Genau Sepp! Deinem Jungen solltest du mal kräftig was hinter die Löffel geben!"

"Außerdem kann man das überhaupt nicht vergleichen! Das war ein ganz anderes Niveau damals. Die C−Klasse vor 30 Jahren, die war mindestens so stark wie heute die Bundesliga. Fußballer waren das! Das könnt ihr euch heutzutage gar nicht mehr vorstellen."

"Genau! Wir alle hätten drei oder vier Klassen höher spielen können. Aber wir haben uns für den TSV entschieden!"

"Für den TSV!", riefen alle zehn Veteranen wie aus einem Munde und erhoben ehrfürchtig ihre majestätisch schäumenden Gläser.

Und so rannen die Minuten dahin. Die alte Garde des TSV Weiherfelden erzählte Niklas und mir eine Anekdote nach der anderen. Sie ließen nichts aus. Verprügelte Schiedsrichter, deren klapprige Fahrräder man nach einer Niederlage auf das Dach des Sportheims gehängt hatte. Denn ohne Hilfe des Schiedsrichters hätte diese Mannschaft niemand schlagen können.

Sie berichteten von drei Fallrückziehertoren im entscheidenden Aufstiegsspiel gegen einen Kontrahenten, der so hart und brutal gewesen war, dass sie abends am Biertisch ihre steinernen Maßkrüge in die Luft warfen und mit dem Kopf aus dem offenen Fenster beförderten. Kopfballtraining hatte man das damals genannt.

"Und weißt du noch, als der Hodhaddernnachalasch−Fritz sich gegen Hohenstein beide Füße gebrochen hat? Mit dem Zipfel hat er nach meiner Ecke den entscheidenden Ball über die Linie gedrückt. Mit dem Zipfel! Etwas anderes war ihm ja nicht übriggeblieben, bei zwei gebrochenen Füßen!"

Am Ende schwor Niklas Dingers Vater gar auf alles was ihm lieb und teuer war, dass er auf dem Höhepunkt seiner Karriere Streit mit dem Weiherfeldener Platzwart gehabt hatte, da er früher so schnell laufen konnte, dass der Rasen hinter ihm stets in Flammen stand.

Ich amüsierte mich köstlich, als plötzlich wie aus dem Nichts unser guter alter Spielleiter Willi am Stammtisch auftauchte. In seiner Hand flatterte ein zerknitterter, antik anmutender Zettel.

"Ich war soeben unten im Archiv", begann Willi mit lauter, durchdringender Stimme, so als wolle er etwas Bahnbrechendes verkünden. Alle Augen richteten sich gebannt auf ihn und seinen geheimnisvollen Zettel.

"Ich verlese:

Spielberichtsbogen C−Klasse Ost

Datum: 18. April 1976

1. FC Kirchthein − TSV Weiherfelden"

Mit einem Mal wurde es mucksmäuschenstill im Sportheim. Die Spannung war greifbar. Was hatte Willi denn da ausgegraben?

"Aufstellung TSV Weiherfelden:

Nummer 1: Eberhart Gepard"

Der Bärtige zuckte angstvoll zusammen und schien förmlich in seinem Stuhl zu versinken.

"Nummer 2: Franz Mann"

Hüstelnd versuchte der nächste Fußballveteran vergeblich, sich hinter seinem Bierglas zu verstecken.

"Nummer 3: Rudolf Müller

Nummer 4: Friedrich Götz

Nummer 5: Baptist Meier

Nummer 6: Josef Dinger"

Niklas Vater machte ein mürrisches Gesicht und musterte Willi mit finsterem Blick.

"Nummer 7: Ernst Gepard

Nummer 8: Willibald Hofner

Nummer 9: Wolfgang Schick

Nummer 10: Bertram Kohler

Nummer 11: Heinrich Sepper"

Willi machte eine kurze Kunstpause. Doch jeder konnte bereits ahnen, was nun folgen musste. Einige alte Männer erweckten den Eindruck, eine so schnelle Flucht zu planen, dass durchaus der Rasen hinter ihnen in Flammen stehen würde.

Wie ein Peitschenhieb schmetterte Willis Stimme durch die stickige Luft: "Ergebnis: 1−0 für den 1. FC Kirchthein!"

Josef Dingers wütende Proteste übertönten das brüllende Gelächter im Sportheim: "Das eine Spiel sagt doch gar nichts! Da waren wir betrunken!"

"Schiebung war das damals. Eine ganz hinterlistige Schiebung!"

"Außerdem hatte Kirchthein damals eine Mannschaft, die hätte euch alle in Grund und Boden gespielt!"

"Zwei Fußballer hatten die in der Spitze, da wären ein Beckenbauer oder Gerd Müller vor Neid erblasst!"

So ein verrücktes Völkchen hatte ich noch nie erlebt. Aber die selbstbewussten alten Männer mit den tollkühnen Fußballgeschichten waren nicht unsympathisch. Ganz im Gegenteil! Ich beschloss, mir in Zukunft öfter ein Bundesligaspiel im Sportheim des TSV Weiherfelden anzusehen. Bessere Unterhaltung konnte man in keiner Comedy−Show finden.

Nach der gelungenen Abwechslung vom tristen Alltag eines Zivis im Mobilen Sozialen Hilfsdienst, verbrachte ich einen entspannten Abend zu Hause vor dem Fernseher. An Weggehen und exzessives Trinken war nicht zu denken. Der erste Dreier musste her! Der SV Möhrich war nicht der stärkste Gegner. Sie waren selbst nur mit zwei Unentschieden in die Saison gestartet.

Vor dem Anpfiff fand Trainer Andreas Dietner in der engen Gästekabine im Möhricher Sportheim erneut die richtigen Worte: "Möhrich steht heute genauso unter Druck wie ihr. Die haben auch noch kein Spiel gewonnen. Und wenn sie heute verlieren, dann rutschen sie gefährlich hinten rein. Und das wissen sie! Gegen so eine Mannschaft können wir nur bestehen, wenn jeder Einzelne von euch von der ersten bis zur letzten Minute kämpft. Wir müssen kratzen und beißen, kommen und gehen, die Zweikämpfe suchen und gewinnen. Sie müssen euren heißen Atem im Nacken spüren! Nicht übermotiviert, aber motiviert! Ich will euch laufen und kämpfen sehen, dann kann uns in dieser Klasse niemand schlagen!"

Während wir noch dabei waren die Fußballschuhe zu schnüren, stattete uns der Schiedsrichter einen kurzen Besuch ab. In den höheren Spielklassen gehörte es zum guten Ton der erfahrenen Schiedsrichter, sich vor dem Spiel beiden Mannschaften namentlich vorzustellen. Dabei wurden auch Hinweise gegeben, dass Meckern beispielsweise umgehend mit einer gelben Karte geahndet würde. Selbst in den niedrigsten Klassen versuchten manche Schiedsrichter dadurch einen professionellen Eindruck zu erwecken. "Hallo. Mein Name ist Rolf Heinemann, und ich pfeife für den FSV Eggenheim." Der etwas behäbige, glatzköpfige Mann Mitte fünfzig legte eine kurze Pause ein und sah sich unsicher in der schmalen Umkleidekabine um. Er trug eine Kette mit einem viel zu großen Kreuz um den Hals und machte einen frommen, ernsten Eindruck. "Verzichtet bitte auf böse Fouls und unnötiges Gemecker, dann werden wir schon gut miteinander auskommen. Möge Gott uns ein schönes und faires Spiel bescheren!"

"Meine Güte, der sah ja mehr aus wie ein Pfarrer als ein Schiri!", kommentierte Niklas Dinger kopfschüttelnd, als der eigenartige Unparteiische unsere Kabine verlassen hatte.

Der Sportplatz des SV Möhrich befand sich am äußersten Rand des kleinen beschaulichen Ortskerns. Das Gelände am Rande einer vielbefahrenen Landstraße war von einem kleinen Wäldchen und weitläufigen Wiesen umgeben. Ein winziges Bächlein plätscherte idyllisch hinter dem Tor. Vorsichtig schleppte der Regisseur den Eiskoffer, der zur Behandlung der verletzten Spieler diente. Es war ein eigenartiger Anblick. Den Regisseur hatte ich bislang nirgendwo anders als im Wirtschaftsraum des Weiherfeldener Sportheims angetroffen. Spielleiter Willi hatte sich eine heftige Sommergrippe eingefangen und lag mit 40 Grad Fieber im Bett. Man munkelte sofort, dass ihn die Fußball−Veteranen des TSV als Rache für die gemeine Aktion mit dem historischen Spielberichtsbogen vergiftet hatten. Und so hatte Andreas kurzerhand mit dem Regisseur einen renommierten TSV−Fan als Ersatz−Betreuer verpflichtet.

Bei der Platzwahl wunderten wir uns über den Kapitän der Gastgeber. Obwohl Möhrich die Platzwahl gewonnen hatte, entschied er sich für die schlechtere Seite, bei der seine Mannschaft die ersten 45 Minuten lang gegen die Sonne spielen musste.

Doch in der Anfangsphase waren wir zu zögerlich, um Kapital aus dieser Unachtsamkeit zu schlagen. Aufgrund der vielen Fehlpässe der beiden sichtlich nervösen Mannschaften spielte sich die Partie die meiste Zeit im Mittelfeld ab. Dort verrichtete ich gewohnt zuverlässig den Job des Abfangjägers vor der Abwehr.

Es waren noch keine 30 Minuten gespielt, als wir uns endlich etwas mehr zutrauten und gezielter nach vorn spielten. Dieser Mut wurde sogleich belohnt. Pferdelunge Harald Gepard köpfte eine Flanke des begnadigten Bernd Hagen unhaltbar in die Maschen. Mit der 1−0 Führung im Rücken kehrte das Selbstbewusstsein zurück. Unsere Angriffslust war geweckt. Mit einem verzweifelten langen Ball versuchte der SV Möhrich, sich aus unserem fünfminütigen Powerplay zu befreien. Aber nicht mit mir! Kompromisslos stieg ich gleich gegen zwei gegnerische Mittelfeldspieler in die Luft und köpfte den Ball wuchtig zurück zum Möhricher Strafraum. Dann explodierte der Schmerz in meinem Kopf. Benommen sank ich zu Boden und rührte mich nicht mehr.

Stöhnend blinzelte ich in die flimmernde Sonne und nahm die Silhouetten meiner vier Mitspieler wahr, die sich besorgt über mich beugten und meinen Namen riefen: "Marco, alles klar? Kannst du aufstehen?"

"Ich denke, es geht!", stammelte ich kämpferisch. Mit einem gequälten Ächzen kniete ich mich in das weiche Gras und blickte fragend zu Harald auf: "Was ist denn passiert?"

"Ihr seid mit den Köpfen zusammengerasselt. Wird schon wieder!"

Träge nickte ich mit dem Kopf. Dann kam der Schiedsrichter angelaufen und wollte sich mit den gebräuchlichen Testfragen vergewissern, ob ich in der Lage war weiterzuspielen: "Kannst du mir sagen, wie der Spielstand ist?"

Ich dachte kurz nach: "Wir führen 1−0."

"Und wann hat der Papst Geburtstag?"

Mit großen Augen blickte ich den seltsamen Schiedsrichter an. Ist das wirklich sein Ernst? Seine erwartungsvolle Miene ließ keine Zweifel zu.

"Keine Ahnung", erwiderte ich schließlich zögernd.

"Oh je, dich hats ja ganz schön erwischt. Geh am besten mal zur Seitenlinie und lass dich kurz behandeln", entschied der gutmütige Schiedsrichter und führte mich vom Spielfeld.

Hilfesuchend blickte ich mich nach meinen achselzuckenden Mitspielern um, die mit verdatterten Gesichtern wie angewurzelt im Halbkreis am Ort des Geschehens stehengeblieben waren. Auch sie verstanden die Welt nicht mehr.

Kaum hatte ich die Seitenlinie erreicht, schoss unser Trainer wie von der Tarantel gestochen auf mich zu: "Alles in Ordnung, Marco? Was ist denn los? Soll sich jemand warmlaufen?"

"Es geht schon! Alles OK."

"Brauchst du irgendwas? Eis zum Kühlen?"

"Nein, alles klar. Weiß jemand von euch, wann der Papst Geburtstag hat?"

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Andreas auf meinen Kopf. Er wirkte wie ein Mann, der einem beängstigenden Geisteskranken gegenüberstand.

"Regisseur, komm mal bitte mit dem Eis. Ich glaube, der Marco hat wirklich was abbekommen!"

Noch ehe ich Gelegenheit hatte, den Grund für meine ungewöhnliche Frage aufzuklären, stand auch schon der Regisseur neben mir. Ich hörte noch das Klappern des geschüttelten Eissprays, aber ich war zu langsam, um das drohende Unheil zu verhindern.

"Aaah, verdammt!", fluchte ich schmerzerfüllt mit zusammengekniffenen Augen, als mir der nicht ganz nüchterne Regisseur fachmännisch das Eisspray ins Gesicht sprühte.

"Meine Güte, was ist denn heute mit euch los? Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?", schimpfte Andreas Dietner vorwurfsvoll. "Die alten Zeiten, als man noch daran geglaubt hat, dass Eisspray einen Fußballer unverwundbar macht, sind fei schon lange vorbei!"

Während sich der gescholtene Regisseur reumütig auf die Auswechselbank zurückzog, schnappte sich unser Trainer höchstpersönlich den Eiskoffer, zog eine Plastikflasche aus dem Haufen Eiswürfel und schüttete mir das eiskalte Wasser über den Kopf.

"Nein! Halt!", brüllte der Regisseur noch verzweifelt, aber es war bereits zu spät. Kurz nachdem mir der beißende Geruch in die Nase gestiegen war, brannten meine bemitleidenswerten Augen ein zweites Mal wie Feuer!

"Was war denn das?"

Verwirrt schnupperte unser Trainer an der Plastikflasche und suchte mit hochrotem Kopf nach dem Regisseur, der sich in weiser Voraussicht im hintersten Eck der Ersatzbank verkrochen hatte. "Was ist das?" Andreas scharfer Tonfall ließ keine Ausreden zu.

"Wodka", antwortete der Regisseur kleinlaut und kauerte sich noch tiefer an den Rand der Auswechselbank.

"Ich werd noch verrückt hier!", murmelte Andreas resignierend und kümmerte sich wieder um mich. "Bist du wieder fit?"

Selbst wenn ich eine Gehirnerschütterung oder eine Schädelprellung gehabt hätte, ich hätte in jedem Falle "Ja" gesagt. Ich wollte einfach nur weg von hier! Zurück aufs Spielfeld. In Sicherheit!

Wild gestikulierend fuchtelte Andreas mit den Armen, um dem Schiedsrichter zu signalisieren, dass ich wieder einsatzbereit war. Dann ballten sich seine Finger plötzlich zu einer wütenden Faust. Kurz darauf bejubelten die Möhricher Zuschauer den 1−1 Ausgleich. Unser Gegner hatte die durch meine Abwesenheit entstandene Lücke im defensiven Mittelfeld kaltschnäuzig ausgenutzt. Die hart erarbeitete Führung war dahin.

"Na prima!", kommentierte unser Trainer sarkastisch. "Das hat uns gerade noch gefehlt. Schiedsrichter! Schiedsrichter!!!!! Unser Spieler ist wieder fit!"

"16. April!", rief mir ein Weiherfeldener Zuschauer zu, als der Unparteiische eiligen Schrittes auf mich zukam, um sich von meiner Einsatzbereitschaft zu überzeugen. Er hatte mit seinem Smartphone den Geburtstag des Papstes nachgeschlagen.

Der Schiedsrichter begutachtete mich mit kritischem Blick: "Weißt du noch, wie es steht?"

"Jetzt steht es 1−1."

"Und wann hat der Papst Geburtstag?"

"16. April."

"Na siehst du. Dir geht es ja schon besser!"

Die zweite Hälfte begann mit einem Paukenschlag. Die Pause war keine drei Minuten vorbei, da hämmerte ein Möhricher Mittelfeldspieler mit einem waschechten Sonntagsschuss den Ball aus über 30 Metern in den Torwinkel. Fassungslos starrten wir auf unseren chancenlosen Torhüter Andreas Stieler, der fluchend den Ball aus dem Tornetz fischte und ihn mit verärgerter Miene zum Mittelkreis feuerte.

Der 2−1 Rückstand war eine Katastrophe. Wie gelähmt versuchten wir, ein drückendes Angriffsspiel aufzuziehen. Aber es dauerte gute 20 Minuten bis wir uns von dem Schock erholt hatten. Dann aber tauchten wir immer wieder gefährlich vor dem Möhricher Tor auf.

Und schließlich erkannten wir den Sinn hinter der bis dato nicht nachvollziehbaren Seitenwahl des Möhricher Spielführers. Denn das Fangnetz hinter dem Tor des SV Möhrich entpuppte sich als fatale Fehlkonstruktion. Zwar hatte man dort ein Netz gespannt, um zu vermeiden, dass Fehlschüsse über den Bach hinweg auf der Landstraße oder gar im dichten Brennnesselfeld auf der anderen Seite der Straße landeten. Aber man hatte das Netz zu hoch angebracht, so dass nur Schüsse ab einer Höhe von mindestens einem Meter aufgehalten wurden. Alle flachen Schussversuche kullerten ungehindert unter dem Fangnetz hindurch und purzelten entweder in den Bach oder rollten auf die vielbefahrene Landstraße.

In den letzten 20 Spielminuten nutzte unser liebenswerter Gegner diesen Umstand kompromisslos aus und betrieb sein routiniertes Zeitspiel bis zum Exzess.

Michi Meister setzte sich stark gegen zwei Gegenspieler durch. Sein Torschuss touchierte noch klirrend den Pfosten, ehe der Ball in den Bach plumpste und gemächlich davon schwamm. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass es eine halbe Ewigkeit dauerte, bis die Gastgeber einen Ersatzball aufgetrieben hatten. Wertvolle Zeit verstrich. Langsam aber sicher wurden wir nervös.

Noch 15 Minuten. Bernd Hagen versuchte alles. Ein verzweifelter Schuss aus 25 Metern. Glänzend pariert vom wachsamen Möhricher Torhüter. Unaufhaltsam sprang der abgelenkte Ball neben das Tor, hüpfte über den schmalen Bach hinweg und blieb hinter der Landstraße in einem kleinen Graben liegen.

"Ersatzball!", forderte Trainer Andreas ungeduldig, aber natürlich hatte unser gewiefter Gegner nur einen einzigen Ersatzball bei der Hand, und der war schließlich vor fünf Minuten im Zeitlupentempo davon geschwommen.

Die 30 Sekunden, die unser hektischer Außenstürmer Stefan Schmidt auf der anderen Straßenseite warten musste, bis die Verkehrslage ein Passieren der Straße zuließ, kamen uns vor wie eine halbe Ewigkeit. Das Zeitspiel unseres Kontrahenten wirkte so einstudiert, dass es uns nicht überrascht hätte, wenn die vorbeifahrenden Autos allesamt Vereinsmitglieder des SV Möhrich gewesen wären. Warteten sie hinter der nächsten Kurve auf ihren Einsatz, um weitere wertvolle Sekunden für ihre Mannschaft zu schinden? Wie sonst ließ sich der Zufall erklären, dass auf dieser kaum befahrenen Provinzstraße den ganzen Tag lang kein einziges Auto unterwegs war, außer wenn der dumme TSV Weiherfelden 1−2 zurückliegt und verzweifelt versucht, auf der anderen Straßenseite den einzig verbliebenen Spielball zu holen? Da krochen sie plötzlich aus ihren Höhlen und Löchern, die Wagenkolonnen und Autokorsos der Franken−Metropole Möhrich.

Wäre unser guter alter Choleriker Willi an jenem Tage dabei gewesen, er hätte entweder einen Nervenzusammenbruch erlitten oder eine Massenschlägerei mit der gesamten Anhängerschar des SV Möhrich vom Zaun gebrochen. Willi gegen den Rest der Welt!

10 Minuten bis zum Schlusspfiff. Möhrich stemmte sich mit aller Gewalt gegen unsere nicht endenden Angriffswellen. Jede Gelegenheit wurde gekonnt genutzt, um eroberte Bälle hinter das eigene Tor zu dreschen. Diesmal war es dem kantigen Verteidiger des SV Möhrich sogar gelungen, den Ball über die Landstraße hinweg bis in das Brennnesselfeld zu schießen. Fluchend watete Michi Meister durch das brennende Unkraut und suchte fieberhaft nach dem Ball.

Nur noch 5 Minuten. Die Uhr tickte unaufhaltsam. Es war zum Verrücktwerden! Wieder trafen wir nur den Pfosten. Der Ball prallte ins Toraus und blieb in dem kleinen Bächlein liegen. Im Schneckentempo holte der SV Möhrich einen Kescher. Sie hatten gewiss den langsamsten Bewohner von ganz Möhrich für diese verantwortungsvolle Aufgabe auserkoren. Gegen ihn wirkte selbst Bernd Hagen wie der weiße Bruder von Usain Bolt. Die Sekunden rannen dahin.

Dann ertönte der erlösende Schlusspfiff unseres frommen Schiedsrichters. Erlösend für die erleichterten Zuschauer des SV Möhrich, deren Mannschaft sich mit ihren hinterlistigen Tricks zu einem unverdienten Sieg gezittert hatte. Aber letzten Endes auch erlösend für uns, denn so hatte dieses beispiellose Trauerspiel wenigstens endlich ein Ende. Wir hätten an dem verhexten Tag ohnehin kein Tor mehr geschossen.

Eine halbe Stunde später wurden im Möhricher Sportheim die anderen Ergebnisse der Kreisklasse Nord verlesen. Wir waren auf den letzten Tabellenplatz abgerutscht. Den Saisonstart hatten wir uns anders vorgestellt. Mein Schädel brummte wie ein Bienenstock. Die Augen waren feuerrot von der seltenen Kombination aus Eisspray und Wodka. Zumindest weiß ich seit jenem Tag, dass der Papst am 16. April Geburtstag hat.

Was für ein wunderbarer Tag!


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